· 

SOPHIE UND LEON ÜBEN SICH IN SLOW ART

 

"Seeing is like hunting and like dreaming, and even like falling in love. It is entangled in the passions - jealousy, violence, possessiveness; and it is soaked in affect - in pleasure, and in pain. Ultimately, seeing alters the thing that is seen and transforms the seer. Seeing is metamorphosis, not mechanism." 

 

(James Elkins in: The Object Stares Back: On the Nature of Seeing, 1996.) 

 

SOPHIES ERFAHRUNGSBERICHT

Zum ersten Mal hab ich via A Cup of Jo in einem Online-Artikel der New York Times von einer entschleunigten Herangehensweise eines Museumsbesuchs gelesen. Professor James O. Pawelski schlägt darin vor 30 Minuten durch einen Museumstrakt zu wandeln und sich dann 20 Minuten für ein einziges Objekt Zeit zu nehmen. "Slow Art". Weil langsam zwischendurch wohltuend sein kann, wollte ich es gerne ausprobieren - und das am besten zu zweit. So geschehen an einem Sonntag vor zwei Wochen im Kunsthistorischen Museum Wien. Es war unerwartet einfach meinen Counterpart für dieses kleine Experiment zu begeistern. Vielleicht lag's an den poschierten Eiern

Bevor wir starteten mussten wir folgende Fragen untereinander klären: Nehmen wir dasselbe oder jeder ein anderes Bild? Nach welchen Kriterien wählen wir aus? Prof. Pawelski schlägt vor das Bild nicht zu wählen, weil es berühmt ist, sondern weil es anspricht. So haben wir es dann auch gehandhabt...

 

Ich wandelte durch circa vier bis fünf Säle - mehr suchend als betrachtend und zudem quälte mich die Neugier für welches Bild sich Leon entscheiden würde. Wo war er außerdem geblieben?

Meine inneren Kriterien machten die Auswahl nicht leicht: ich wollte kein Bild wählen, dass ich schon kannte und vor allem keines, dass ich im Studium einmal in Form einer Bildbeschreibung erarbeitet hatte und ich wollte mich keinesfalls langweilen. Interessant oder? Eine Angst vor LANGEweile?! Bei bestimmten Gemälden, zu denen es mich bei jedem Besuch hinzieht, wie zum Beispiel zu dem Rubens-Bild mit dem extra Fuß ("Himmelfahrt Mariae"), wusste ich da könnte ich schon 20 Minuten ohne Gähn-Faktor davor verbringen. Vielleicht würde ich noch andere frei schwebende Gliedmaßen entdecken. Na! Lieber doch etwas Unbekannteres auswählen; aber zuerst die Toilette aufsuchen, damit meine volle Blase nicht die volle Aufmerksamkeit bei der Betrachtung erheischt.  ;-)

Peter Paul Rubens, Himmelfahrt Mariae, um 1611/1614 - 1621, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Detail. Foto © sophiefuehrt
Peter Paul Rubens, Himmelfahrt Mariae, um 1611/1614 - 1621, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Detail. Foto © sophiefuehrt

Wieder zurück erinnerte ich mich an die Bilder im zweiten Raum des Niederländer-Traktes. Da wimmelte es nur so von kleinen Figuren und vielen Details. Vor allem die Gemälde Pieter Bruegels d. Ä. erinnerten mich immer an die "Wimmelbücher", die mich seit Kindertagen so fesseln. Besonders angetan hatte es mir eine Darstellung aus der Vogelperspektive, wo kleine bunt gekleidete Figürchen über die Bildfläche kullern, auf Stelzen gehen, miteinander balgen oder mit Tüchern ihre Häupter bedecken. Ich kannte das Bild, weil ich eines Tages einen jüdischen Kreisel (Dreidel) gegoogelt habe und dabei ein Detail des Bildes erschienen ist. Der Text des Bildes (ja, ich habe ihn schändlicherweise vorher gelesen) versprach einen "längeren Zeitvertreib", wenn man alle 200 Kinder mit ihren 83 Spielen entschlüsseln wollte, sodass davor zu stehen auch kein Problem werden sollte. Gekauft! Oder besser: betrachtet! 20 Minuten lang.

Also stand ich da und bewegte meinen Blick von rechts unten angefangen über die Bildmitte, schwenkte nach oben, dann wieder nach rechts. Ich schaute mir jede einzelne Kindergruppe genauer an und versuchte herauszufinden welches Spiel sie spielten. Manche liebevolle Details, wie die rote Mütze an einer Dachschräge, unterschiedliche Gesten oder die roten Hosen (wie ich selbst eine trug) brachten mich zum Lachen - ein geräuschloses Lachen bei dem sich nur die Schultern auf und ab bewegten. Immer wieder nahm ich die Geräusche der Umgebung wahr; wie das Knarren des Fußbodens oder das Klicken eines Fotoapparates - einmal hier, einmal da. Manchmal drehte ich mich hastig um, ganz irritiert von Personen hinter mir, wenn sie miteinander redeten: Murmel murmel "ja, ja" murmel murmel. Unter regulären Umständen würde ich einfach zu einem anderen Bild gehen und evtl. wieder zurück kehren, aber nun stand ich da - stand im Weg. "Danke" sagte eine Frau als ich zur Seite trat, sodass sie schnell ein Foto von dem Gemälde UND Text machen konnte. Laut Forschern verbringen die Durchschnittsbesuchenden 15 bis 30 Sekunden vor einem Kunstwerk. Das konnte ich jetzt bestätigen. Wenn die anderen Besuchenden zu dem Bild, wie die Bienen zu den Blumen hin und wieder wegschwirrten war mir das aber nur recht, denn so konnte ich MEIN Bild wieder für mich alleine betrachten. Da dachte ich an eine Umfrage, die ich mal für Austrian Airlines mitgemacht hatte mit Fragen wie: "Haben sie das Gefühl die Fluglinie zu besitzen und wie lang würden sie eine Schnur halten, wenn eine solche an das Flugzeug angebunden wäre?" So ein Blödsinn, hatte ich gedacht. Wenn mich jetzt jemand fragen würde ob ich das Gefühl hätte P. Bruegels "Kinderspiele" zu besitzen, würde ich "JA" antworten und das Bild an der besagten Schnur ganz, ganz nah halten wollen.

Nach 10 Minuten schaute ich das erste Mal auf die Uhr und dachte ich hätte schon alle Kinderspiele entdeckt (wenn auch nicht entschlüsselt), auch die Architektur habe ich genau betrachtet. Selbst die Signatur und die Jahreszahl 1560 im Holzpflock habe ich gefunden. Wollte fast gehen, trat aber ein paar Schritte zurück und observierte das bunte Treiben aus der Entfernung und dann tauchte auch bei mir die allseits beliebte Frage nach der Rahmung auf: "Wer hat den Rahmen ausgewählt? Wie alt ist er?"

Als ich wieder näher trat empfand ich es plötzlich als Luxus nur mehr nach wenigen unbekannten Details Ausschau zu halten und das Bild "gut zu kennen" schärfte meinen Blick - auch physisch. Unter den Arkaden in der Darstellung oben links entdeckte ich plötzlich ein hockendes Kind mit nach unten gebeugtem Oberkörper und von ihm ausgehend einen kleinen, dünnen Wasserstrahl. Es pieselt! Ein pieselndes Kind! lachte ich (wieder nur mit den Schultern). Es war das erste, was ich Leon zeigte, als wir uns nach 30 Minuten wieder an der Tür trafen. Das war kurz wichtiger als die Wahl seines Bildes. Kurz, jedenfalls.  

LEONS ERFAHRUNGSBERICHT

Nun war es also soweit. Ich hatte kurzerhand einem KHM-Besuch zugestimmt in deren Folge ich mir ein Bild geschlagene zwanzig Minuten ansehen würde. Ob meine Zusage daher rührte, dass mein Körper mit dem Ethanol im Blut des Vorabends zu kämpfen hatte und ich keinerlei Kraft für Ausflüchte entbehren konnte, der Dankbarkeit für ein liebevoll zubereitetes Frühstück oder tatsächlichen Interesses an dem Experiment kann ich heute nicht mehr sagen. Eine gesunde Mischung womöglich.

Das Kunsthistorische ist zum Glück nicht weit weg und der Tag lud auch dazu ein mich nach draußen zu begeben. Die Aufgabenstellung war eine mir vorerst recht simpel erscheinende. Dreißig Minuten umsehen, Bild aussuchen, zwanzig Minuten ansehen und wieder treffen. Klar soweit. Wir teilten uns auf und ich begann meinen Streifzug.

 

Relativ zu Beginn stach mir eines der Bilder ins Auge. Es zeigte einen alten Mann der ein wenig verwirrt von seinen Schriften aufblickend, an mir vorbei sah. Ich sympathisierte mit dem Typen - auch mein Haar war zerzaust und meine Augen waren mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso Blutunterlaufen wie die Seinen. Es gab nur keine Sitzgelegenheit, zumindest keine bequeme. Ein vereinzelter Hocker stand am Rande des kleinen Nebenraums und mir war eine Sitzgelegenheit ohne Lehne suspekt und nicht tragbar. Sicherlich würde es auch noch ein anderes spannendes Bild geben. Die von Gemälden und goldenen Rahmen geschwängerten Wände waren ein schöner Anblick. Die Kunstfertigkeit war bewundernswert, ebenso die Leidenschaft die bei den manchmal schon grotesk detaillierten Darstellungen zu bemerken war, doch unter den gemalten Szenen fanden sich nur wenige die meinen Geschmack so richtig trafen.

Da war zum Beispiel Davids Sieg über Goliath, dessen Spiel aus Licht und Schatten sehr faszinierend war, doch vor dem es auch zu viele Leute gab um ungestört sitzen und betrachten zu können. Also weiter. Wieder mehrere Gemälde ohne jedwede Sitzmöglichkeit, dann ein Kaufmann, dessen gieriger Blick zu flackern schien, während seine knochigen Finger Besitz hielten. Das gefiel mir. Ein schönes Bild, mit schöner Sitzgelegenheit. Doch es zeigte nur eine einzige Person. Würde mir das für zwanzig Minuten purer Betrachtung nicht zu wenig sein? Meine Augen sollten schon auf Erkundungstour gehen dürfen, um etwaige Feinheiten unterschiedlicher Gesichtszüge wahrnehmen zu können.

Ich hatte noch fünf Minuten und noch immer keinen Plan welches der Gemälde das geeignete war. Also begann ich die Taktik zu ändern und suchte nach einer leeren Bank vor einem großen Gemälde mit reichlich dargestelltem Tohuwabohu. Eilig schritt ich zurück und ließ meine Augen nochmals über die Szenerie schweifen. Wieder bei der Eingangstür setzte ich mich vor eines der riesengroßen Gemälde auf eine leere Bank. Da waren relativ viele Personen auf dem Bild - gut. Sehr groß war es auch, somit musste ich nicht so nah hin und konnte auf der Bank bleiben - gut. Da war eine Bank - gut. Mich drehte es kurz als ich mich auf die Bank setzte - nicht gut. Vielleicht hätte ich doch stehen bleiben sollen.

 

Ich betrachtete von nun an eingehend das vor mir hängende Farbenspiel. Es zeigte einen König bei dessen Krönung in eine schimmernde Rüstung gekleidet. Ein Lorbeerkranz schwebte über seinem Haupt, von Engeln überreicht. Die irdische Krone ruhte, auf einem Kissen gebettet, im Schoß eines Bediensteten, der vorne links im Schatten saß. Der König zeigte mit seinem linken Zeigefinger auf den rechts neben ihn knienden Mann, der mir wie ein hochangesehener Mann oder Adeliger vorkam und direkt aus dem Gemälde blickte. Die dargestellte Pose des Königs war für mich ganz klar der dargestellte Versuch, einen angefeuchteten Finger in das Ohr des Knienden zu bugsieren. Ein König konnte sich zur damaligen Zeit anscheinend auch einen feuchten Fuzzi leisten. Der Mann rechts hinter dem König erinnerte mich an Tim Roth in Reservoir Dogs. Der Typ da hatte einen Plan, soviel stand fest. Links vom König eine Dame, glaube ich, ein Mann, ein Soldat und ein Kind. Das Kind hielt die schwere Schleppe des Monarchen und sah gedankenverloren weg vom Geschehen. Das fand ich interessant, denn rechts neben Tim Roth war ein weiteres Kind im Hintergrund zu beobachten, der wiederum auf den König blickte und nicht weg sah.

Nun gut, ich hatte das Bild nun gesehen, alles aufgefasst und konnte nun gehen. Ich erhob mich, blickte auf die Uhr - sieben Minuten waren verstrichen - und setzte mich wieder hin. Sieben Minuten erst? NUR SIEBEN MINUTEN!?!

Ich betrachtete das Farbengewirr weiter. Die beiden Jungen hatten eine merkwürdige Beziehung in dieser dargestellten Szenerie. Der Junge, der dem König so nah war, wirkte als wäre er gerne irgendwo anders nur nicht am Saum des Herrschers und somit im ehrenvollen inneren Kreis. Der Junge außerhalb hinter Tim Roth wiederum, schien nichts sehnlicher zu wollen als sich ebenjenem Kreis zugehörig fühlen zu dürfen. Insgesamt wirkten alle Personen ein wenig geknickt, bis auf den König, mit seinem verschmitzten Lächeln und dem Plan, den Adeligen zu sekkieren.

Rechts unten im Bild erkannte ich einen Hund; der war mir zu Beginn total entgangen, wie er da ins Bild lugte. So klein. Irgendwie verschlimmerte der kleine Hund das ganze Bild nur noch mehr. Durch die dargestellte unterwürfige Haltung dieser kleinen Züchtung zog sich nun auch durch das Bild eine gewisse Demut. Alle waren dem König zurecht gezüchtet worden und nur für sein Amüsement zuständig. Nur Tim Roth nicht. Tim Roth hatte einen Plan und Tim Roth konnte dem einen Jungen im inneren Kreis sicher von seiner Sache überzeugen. Nur vorerst, vorerst konnte Tim Roth niemanden trauen, ganz besonders nicht dem anderen Jungen im Hintergrund, der alles für seinen König tun würde... Tja, die Zeit war um. Ich ging noch kurz zur Bildbeschreibung: Francesco Solimena 1657-1747, Neapel, Karl VI & Gundacker Graf Althann, 1728. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Leni (Samstag, 08 April 2017 12:36)

    Danke, köstlich. Ich konnte, Gott sei Dank, laut auflachen �. Scheint ein sehr interessantes Experiment zu sein.

  • #2

    Sophie (Dienstag, 11 April 2017 18:45)

    Sehr gut, Leni!! :-D
    Ja, es ist wirklich spannend und vor allem jederzeit in einen Museumsbesuch integrierbar. Zeit nehmen und weniger, dafür länger anschauen - schult das Sehen! ;-)